Nichts geht über Beziehungen
Wie wichtig Beziehungen sind, zeigt sich uns immer wieder, und ganz speziell am Anfang und am Ende unseres Lebens. Dass sich deren Wichtigkeit im Lauf der jüngeren Menschheitsgeschichte verändert hat und wie die Beziehung zur göttlichen Dimension unser Leben bereichern kann, soll hier ebenfalls beleuchtet werden.
Die Wichtigkeit von Beziehungen im Laufe des Lebens
Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir ganz und gar von anderen abhängig und somit sehr verletzlich. Ein uns wohlwollendes Gegenüber ist lebenswichtig. Kleine Kinder, die diese Abhängigkeit vorwiegend positiv erleben, entwickeln ein gesundes Urvertrauen und haben so die besseren Voraussetzungen für ein gelingendes Leben. Sie haben grundsätzlich eine positivere Einstellung anderen und sich selbst gegenüber und es wird ihnen leichter fallen, gute Beziehungen zu führen. Anders, wenn wir diese Abhängigkeit als Kleinkind vorwiegend negativ erleben und nahestehende Menschen uns eher verletzt haben: Dann wird sich das Urvertrauen nur mangelhaft bilden und wir werden es im Normalfall nicht so leicht haben, gute Beziehungen zu führen.
Im Lauf des Lebens kommt eine Zeit, wo viel Anderes uns wichtig wird, je nachdem auch wichtiger als unser soziales Umfeld. Vielleicht, weil wir im zwischenmenschlichen Bereich mehr verletzt als getröstet wurden, also nicht erhielten was wir brauchten. Vielleicht, weil wir als Kinder unter materieller Not gelitten haben, oder weil wir die Wichtigkeit von materiellen Gütern von den Eltern mitbekommen haben. Vielleicht ganz einfach auch, weil wir unsere eigene Wirkungskraft und Macht entdecken und sie uns zu Nutze machen, um unsere eigenen Ziele zu erreichen.
Wenn im Alter unsere Kraft und Fähigkeiten abnehmen und die Abhängigkeit von den Mitmenschen wieder zunimmt, werden wir die Wichtigkeit von Beziehungen erneut erfahren.
Interessant finde ich die Tatsache, dass Kleinkinder, die sich ihrer Abhängigkeit nicht bewusst sind, in der Regel am meisten auf Beziehungen aus sind und sich am Gegenüber erfreuen können. Sie erscheinen uns so vorbehaltlos, vorurteilsfrei, herzensoffen und vertrauend wie keine anderen Menschen, und wir sehen, dass wir in dieser Hinsicht von ihnen lernen können. Jesus sagt über sie: «Ihre Engel … sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel»(Die Bibel, Matthäus 18.10). Ja, kleine Kinder kommen uns manchmal vor wie Zeugen einer himmlischen Welt.
Auch für alternde Menschen mit Demenz zeigt sich die Beziehungsebene als das Bleibende, wenn die Möglichkeiten des Denkens nachlassen. Das Gegenüber wird wieder das Wichtigste.
Warum ist das so, dass am Anfang des Lebens nicht das Denken, sondern die emotionelle und soziale Ebene, das heisst das Fühlen und Beziehen auf andere entwickelt wird? Und warum verabschiedet sich in der Regel auch zuerst das klare Denken, aber der Drang nach Beziehung verschwindet nicht? Beziehungen scheinen am Anfang und am Ende des Lebens über allem anderen zu stehen. Sagt uns dies nicht etwas über deren Wichtigkeit aus?
Paulus schreibt im „Hohelied der Liebe“ in ähnlicher Weise:
Und wenn ich alle Geheimnisse und alle Erkenntnis habe, …aber nicht Liebe habe, so bin ich nichts.
Und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich Berge versetze, aber nicht Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen austeile, … aber nicht Liebe habe, so nützt es mir nichts. (Die Bibel, 1.Korinther 13,2+3)
Die Wichtigkeit von Beziehungen in der Zeitgeschichte
Nicht nur im Laufe jedes einzelnen Lebens, auch im Laufe der jüngsten Menschheitsgeschichte scheint sich die Wichtigkeit von Beziehungen zu verändern.
Bis vor nicht allzu langer Zeit besassen Menschen nicht so viele materielle Güter wie heute, und sie waren in der Regel gegen gar kein Unglück versichert. Umso mehr waren sie abhängig voneinander. Der eine hatte dies, der andere das, und es wurde produziert und getauscht und gehandelt. Gute Beziehungen zu erhalten war lebenswichtig. Und was noch heute gilt: Wo der Einzelne nicht viel hatte und die Möglichkeiten des Materiellen beschränkt waren, war die Sicht viel eher auf die menschlichen Beziehungen gelenkt. Klar mussten früher wie heute die Grundbedürfnisse wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf gedeckt sein, aber darüber hinaus fand die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse eher auf der sozialen Ebene statt. Beziehungen waren zentraler als heute.
Ebenso wie das Soziale hatte auch das Spirituelle und Religiöse einen höheren Stellenwert. Gesundheit und Wohlergehen konnten jederzeit ein jähes Ende nehmen, eine Absicherung durch Medizin und Sozialstaat existierten nicht in der heutigen Form. Daher war die Hoffnung auf einen gütigen Gott und auf ein Leben nach dem Tod eine grosse Hilfe.
Sowohl die Beziehungen zu den Mitmenschen wie auch zum Göttlichen scheinen heute armseliger geworden zu sein. Aus den genannten Gründen wie Wohlstand und Sicherheit, aber auch wegen der distanzierten Kommunikationsmittel. Demzufolge verkümmern auch die dafür notwendigen Fähigkeiten. Unser Sinn für Zwischenmenschliches, unsere natürliche Sozialkompetenz, unsere Intuition bilden sich nicht mehr im selben Mass aus.
Hingegen werden wir sehr kopflastig geschult und auf das Leben vorbereitet. Wir werden über vieles informiert und lernen, woher wir die restlichen Informationen holen können. Wir lernen, besser zu reden, zu überzeugen und zu glänzen, aber wir lernen weniger, das Gegenüber wahrzunehmen und zu verstehen. Vieles wird uns neuerdings über den Verstand erklärt, was das Herz schon lange weiss. So gibt es heute etwa im Bereich der Pflege- und Betreuungs-Wissenschaften viele theoretische Schriften, von studierten Fachleuten formuliert, die für einen ungebildeten Verstand kaum verständlich sind aber deren Essenz durch jedes aufrichtige Herz ohne Anleitung gelebt werden kann. Hingegen kann gerade das Hauptsächliche dieser Berufe vom intelligentesten Menschen nicht erlernt werden, wenn es am Herzen fehlt.
Jeder Mensch braucht Beziehung, doch in einer oberflächlichen Welt verwechseln wir dieses Bedürfnis oft. Wir stillen unseren Hunger im Kaufrausch, übermässigem Essen und Trinken, flüchtigen sexuellen Bekanntschaften und so fort. Aber all diese Dinge können unseren Hunger nach echten Verbindungen von Mensch zu Mensch, oder gar von Mensch zu Gott, nicht stillen.
Die Wichtigkeit der Beziehung zum Göttlichen und Ewigen
Wir sind ein Leben lang Kinder unserer Eltern, aber die Abhängigkeit nimmt mit den Jahren ab, und wir werden selbständig. Wobei der Ausdruck „selbständig“ etwas irreführend ist. Wir können zwar selbst stehen, aber ohne soziale Kontakte nicht für lange. Wir brauchen einander, wir sind weiterhin abhängig voneinander.
Falls wir an ein höheres Wesen, an einen Gott glauben, werden wir uns eingestehen, auch von diesem abhängig zu sein. Von ihm, der uns geschaffen hat und uns gedeihen lässt. Und der weiss, wann unsere letzte Stunde schlägt.
Je nachdem, was für ein Gottesbild wir haben, werden wir versuchen, eine Beziehung mit unserem Gott zu schaffen. Diese Möglichkeit fällt weg für Menschen, die nicht an die Existenz eines Gottes oder einer höheren Macht glauben. In dieser Hinsicht sind sie allein und auf sich gestellt.
Wenn wir an den Gott der Christen glauben, glauben wir nicht nur an einen Schöpfer-Gott, aber auch an einen Vater-Gott, der seine Geschöpfe liebt. Der in Christus auf die Erde gekommen ist und sein Leben dafür gegeben hat, dass die Menschen den Weg zu ihm finden und Beziehung mit ihm haben können. Ein Gott, dem die Beziehung mit seinen Geschöpfen wichtiger ist als deren moralisch korrektes Verhalten. Der sagt, dass er all unsere Schuld vergibt und uns gerne gibt, wenn wir mit unserer Last (und unserer Freude) zu ihm kommen (Vgl. Die Bibel, Matthäus 11,28-30). Der sich von jedem finden lässt, der ihn von ganzem Herzen sucht (ebd., Jeremia 29,13f), und der sagt, dass die gute Frucht in unserem Leben aus der Verbindung mit ihm entsteht (ebd., Johannes 15,5). Dass kein Mensch sich selber erlösen kann, kein Mensch durch Werke allein gerecht werden kann, sondern durch die Barmherzigkeit des liebenden Vaters gerettet wird, der mit offenen Armen auf unsere Heimkehr wartet (Vgl. die Geschichte des verlorenen Sohnes in der Bibel, Lukas 15,11 ff)
Im christlichen Glauben geht es also in erster Linie weder um die korrekte Lebensweise noch um Selbstvervollkommnung, sondern um Beziehung. Zugleich geht es um die ultimative Beziehung mit der Liebe höchstpersönlich, die uns reich beschenken will (Die Bibel, z.B. Lukas 12,29-32 / Jesaja 49,15). Die Beziehung mit dem vollendeten Gegenstück, das wir ein Leben lang suchen und nach dem wir uns ein Leben lang sehnen, bewusst oder unbewusst. Oder wie es der Kirchenvater Augustinus ausdrückte: „Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir“. Diese Liebe sagt uns, dass alles gut wird und wir den Weg finden werden. Sie sagt uns, dass wir dran bleiben sollen, dass wir auch in unseren Schwierigkeiten nie ganz alleine sind und dass er selbst den ganzen Weg zu uns gekommen ist, damit wir nur noch von ganzem Herzen «ja» zu ihm sagen brauchen.
Wir sehen, welch unterschiedliche Perspektive sich ergibt, wenn ein Mensch seine Beziehungen erweitert und auch diejenige «nach oben» sucht. Und was für eine Welt sich ihm öffnen kann, wenn er den Gott kennenlernt, der sich in Christus den Menschen offenbart hat.
Beziehungen: Vielleicht ist es gerade jetzt an der Zeit, dass wir ihnen in unserem Leben den nötigen Stellenwert zurückgeben.