Lenas Puppe
Heute morgen war Lena als Erste wach. Normalerweise fiel ihr das Aufstehen schwer, aber nicht heute. Noch bevor der Vater das Haus verliess, um ins Fitness-Studio zu gehen, und lange bevor die Mutter die ersten Lebenszeichen von sich gab, hatte Lena sich gewaschen, frische Kleider angezogen und sich die Zähne geputzt. An ihr Frühstücksbrot und die Tasse warme Milch, die sie sich immer ganz alleine zubereitete, dachte sie heute keine Sekunde lang. Viel zu aufgeregt war sie, um in jedem Moment die Klingel an der Tür zu hören. Tante Evelyne wollte mit ihr gemeinsam einen Ausflug machen!
Lena sass noch auf dem kalten Marmor-Küchenboden und war damit beschäftigt, ihrer Puppe ein Make-up aufzutragen und ihr die schönsten Kleider anzuziehen, als das Telefon klingelte. Mutter sprach mit lauter Stimme: „Verstehe ich gut. Kein Problem, muss ja nicht gerade heute sein. Nein, ich werde es ihr sagen. Mach dir deswegen bloss keine Sorgen.“ Anschliessend in sanfterem Ton zu Lena: „Das wird leider nichts heute mit Tante Evelyne, sie lässt sich entschuldigen. Es ist ihr etwas ganz Dringendes dazwischengekommen.“ Der Lippenstift entglitt Lenas Händen und malte der Puppe einen dicken, roten Strich über die Wange. „Nun mach nicht so ein Gesicht. Sie wird es bestimmt nachholen.“ Endlich sah sie, womit sich Lena beschäftigt hatte. „Warum benutzt du schon wieder meinen Lippenstift? Ich habe dir doch schon hundert Mal gesagt, dass diese Dinger nicht in deine Hände gehören! Habe ich dir doch erst kürzlich ein neues Kinderschmink-Set gekauft. Bitte versorg ihn, wo er hingehört.“ Nach kurzem Innehalten: “Du und ich, wir könnten ja vielleicht wieder mal zusammen einkaufen gehen.“
Lena war oft alleine, wenn sie nicht in der Schule war. Ihre Mutter hatte eine wichtige Stelle als Personalverantwortliche, und obwohl sie an zwei Tagen in der Woche von Zuhause aus tätig war, war sie auch in dieser Zeit sehr beschäftigt. Die Firma benötige sie jetzt gerade ganz besonders – solches hörte Lena oft. Der Vater hatte sehr viel Arbeit mit Computern und war nur selten zuhause. Am Wochenende musste er etwas für seine Gesundheit tun, das verstand Lena gut. Sie wollte ja auch nicht, dass der Papa krank würde von seiner Arbeit. Lena dachte an Tante Evelyne. Die Ausflüge mit ihr waren für sie immer etwas Besonderes. Einmal besuchten sie zusammen den Zoo, und den ganzen Tag durfte Lena bestimmen, wohin sie gehen und welche Tiere sie als Nächstes sehen wollte. Ein andermal gingen sie in den Park, und Evelyne hatte einen grossen, schwarzen Koffer dabei. Lenas Überraschung war gross, als sie sah, dass dieser voller Spiele war. Und ihre Tante half mit, bis sie sie alle durchgespielt hatten!
„Mama, hilfst du mir mit dem Puzzle, das ich letztes Mal von Tante Evelyne bekommen habe?“ „ Ooch Kleine, du weisst doch, dass ich dafür nicht so viel Geduld habe.“ „Und ein Eile-mit-Weile?“ „Ach, nicht jetzt, ich muss dringend noch was für’s Geschäft erledigen.“ Nach einer Weile: “Mama, wann gehen wir wieder mal zusammen einkaufen?“ „Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen, aber im Moment sieht es gar nicht gut aus. Vielleicht kommt ja der Papa heute Nachmittag mit.“ „Aber Papa kauft doch gar nicht gerne ein.“ „Vielleicht kommt er heute dir zuliebe mit.“ Darauf Lena zögerlich: „Aber ich will ja auch nicht unbedingt.“ „Ach Mädchen, du weisst nicht was du willst. Im Leben ist es äusserst wichtig, dass man weiss was man will. Sonst wird man überfahren.“ Lena senkte den Kopf tiefer als sonst. Reflexartig strich sie der Puppe über das schöne Kleid. Eine Träne fiel der Puppe direkt auf die rot angestrichene Wange und von da auf das weisse Kleid. Lena dachte an Evelyne und an den Ausflug, auf den sie sich so gefreut hatte. Evelyne nannte sie die „kleine Prinzessin“. Und so fühlte sie sich auch, wenn sie mit ihr zusammen war.
Das Telefon klingelte erneut. Lena horchte auf. Ihre rechte Hand hielt inmitten der Streich-Bewegung wie versteinert still, und mit der linken umklammerte sie ihre Puppe ganz fest. Sie lauschte wie gebannt. „Ah hallo Tina. Weisst du, eigentlich – aber warum auch nicht. So in einer Stunde? Kommst du zu mir? Oder gehen wir einkaufen?“ Sie suchte Lenas Blick. „Lena braucht unbedingt einen neuen Lippenstift für ihre Puppe.“ Lena erwiderte ihren Blick nicht. Sie sass gebeugt über ihrer Puppe und streichelte ganz behutsam über ihre Haare. Dann holte sie ein Feuchttuch und wusch ihr den Strich aus dem Gesicht und machte sie schön.